Privat hergestellte "Zeitschriften des Volkes"
Die unabhängigen Publikationen
In den verschiedenen Quellen sind über hundert Zeitschriftentitel genannt, die in jenem Zeitraum in Peking und in zahlreichen anderen Städten unabhängig vom staatlichen Publikationsmonopol existierten. Oft erscheint nur eine einzige Nummer, von manchen Titeln gibt es zehn Nummern und mehr, in einigen Fällen sogar über mehr als zwei Jahre hinweg, wenn auch mit gelegentlichen Unterbrechungen, wenn die politischen Rahmenbedingungen zu schwierig wurden.
Fast alle Publikationen waren "hektographiert", also mit einfachen Mitteln vervielfältigt (so wie bei uns früher Schülerzeitungen oder Hochschulmanuskripte). Die Texte wurden mit der Hand (seltener mit einer Schreibmaschine) auf Wachsmatrizen geschrieben, die man in ein Vervielfältigungsgerät - meist einen einfachen beweglichen Holz- oder Metallrahmen einspannte. Mit einer Gummirolle wurde Tusche auf die Matrize aufgebracht, und damit der Text auf ein Blatt Papier durchgedrückt – Seite für Seite wurde so händisch hergestellt, bevor man die Blätter zusammenheftete.
Die Herstellung erfolgte meist in Privatwohnungen, wo auch die Redaktionssitzungen abgehalten wurden. Der Druckapparat stand neben dem Bett. Papier und Tusche in größerer Menge waren nicht immer leicht zu kaufen, oft wurden sie aus Büros oder Schulen besorgt, chinesische Schreibmaschinen gab es praktisch nur in staatlichen Institutionen. Eine Filmaufnahme vom Juni 1979 zeigt die Herstellung der Zeitschrift "Forum 5. April" durch Xu Wenli.
Es ist klar, dass damit nur kleine Auflagen von höchstens einigen hundert Exemplaren möglich waren, auch die Herstellungsqualität ließ oft zu wünschen übrig. Als einzige konnte die Zeitschrift "Pekinger Frühling" mit Unterstützung sympathisierender Funktionäre einmal in einer regulären Druckerei in einer Auflage von zehntausend Stück produziert werden.
Abos und Direktverkauf
Abos und Direktverkauf
In Peking wurden die Zeitschriften vor allem an der "Mauer der Demokratie" verkauft, Plakate kündigten meist ein oder zwei Tage vorher das Erscheinen einer neuen Nummer an. Ein Exemplar wurde auch an die Mauer geklebt, für die, die keine Zeitschrift mehr ergattern konnten. Man konnte Abonnements erwerben, die Nummern wurden auch zwischen den unabhängigen Redaktionen im ganzen Land ausgetauscht.
Die Verkaufspreise (meist 0.50 Yuan) waren etwas höher als für die offiziellen Publikationen, man warb auch um finanzielle Unterstützung durch Käufer und Abonnenten. Ausländer wurden meist gebeten, ein Vielfaches (5-10 Yuan) zu bezahlen.
Nicht alle dieser Zeitschriften lösten politische Kontroversen aus, manche Inhalte scheinen banal oder belanglos. Die Qualität und Relevanz der Berichte und Debatten blieb jedenfalls sehr unterschiedlich, einige der Publikationen und ihre Herausgeber galten aber bald als die zentralen politischen Sprachrohre der Demokratiebewegung.
Die Zeitschrift "Forum 5. April " (Si Wu Luntan 四五论坛)
Die Zeitschrift "Forum 5. April " (Si Wu Luntan 四五论坛)
Unter der Herausgebern Xu Wenli (徐文立) und Liu Qing (刘青) haben sich im November 1978 die beiden Zeitschriften "Zeitung des 5. April" (Si Wu Bao 四五报) und "Tribüne des Volkes" (Renmin Luntan 人民论坛) zu dieser neuen zusammengeschlossen, die bis Anfang 1981 achtzehn Nummern herausbrachte und eine der einflußreichstren Publikationen der Demokratiebewegung wurde. Xu Wenli stieg rasch zu einem der Sprecher der "Gemäßigten" auf, die an eine Reform des chinesischen Sozialismus glaubten und eine totale Konfrontation mit dem System ablehnten.
Das "Forum 5. April" trat etwa gegen die radikalen Texte von Wei Jingsheng auf, der Deng Xiaoping als "Diktator" attackiert hatte, forderte dennoch nach Wei's Verhaftung seine Freilassung und druckte auch nach dem von der Öffentlichkeit abgeschirmten Prozess im September 1979 seine heimlich aufgezeichnete Verteidigungsrede, die von vielen großen Medien der Welt aufgegriffen wurde. Generell setze sich die Zeitschrift für den Schutz der Bürgerrechte und mehr Demokratie ein, kritisierte aber den "Offenen Brief" der "Gesellschaft für Aufklärung" an den US-Präsidenten Jimmy Carter.
Die Zeitschrift "Erkundungen" (Tansuo 探索)
Die Zeitschrift "Erkundungen" (Tansuo 探索)
Am 15. Dezember 1978 tauchte an der "Mauer der Demokratie" eine vielbeachtete Wandzeitung mit dem Titel "Die fünfte Modernisierung" (第五个现代化) auf. Wei Jingsheng, ein 29-jähriger Elektriker (aus einer Familie hochrangiger kommunistischer Funktionäre) vertrat darin die Ansicht, dass die offiziell propagierten "Vier Modernisierungen" (in Industrie, Landwirtschaft, Militärwesen und Wissenschaft) noch eine fünfte bräuchten um zu funktionieren, nämlich politische Demokratie. Aus den Debatten um diese Wandzeitungen heraus beschloss Wei, zusammen mit anderen Interessierten, die Zeitschrift "Erkundungen" zu gründen. Sie wurde zum Sprachrohr der radikaleren Gruppe der Demokratiebewegung, die das kommunistische System von Grund auf ablehnte.
Die erste Nummer brachte den Text über die "Fünfte Modernisierung", in den nächsten Ausgaben folgten Beiträge über Menschenrechte, Gleichheit oder politische Gefängnisse in China, und am 25. März 1979 das Manifest "Demokratie oder eine neue Despotie" (要民主还是要新的独裁), in der Wei seine Attacke gegen Deng Xiaoping ("Diktator … wie Mao") ritt. Ein paar Tage später wurde Wei Jingsheng verhaftet, seine Kollegen konnten die Zeitschrift noch einige Monate weiterführen.
Die Zeitschrift "Heute" (Jintian 今天)
Die Zeitschrift "Heute" (Jintian 今天)
Die erste Nummer trug noch den englischen Untertitel "The Moment", eine zweite Auflage der Nummer 1 und alle weiteren Ausgaben hießen dann "Today".
Die Zeitschrift verstand sich als Organ unabhängiger Künstler und Literaten, ihre Gründer waren u.a. die Schriftsteller Mang Ke (芒克) und Bei Dao (北岛) und der Maler Huang Rui (黄锐).
Die Ausgaben wurden anfangs besonders aufwändig gestaltet, mit Graphiken und sogar einzeln eingeklebten Originalholzdrucken, u.a. von Ma Desheng (马德升)und Qu Leilei (曲磊磊).
Inhaltlich brachte "Heute" Kurzgeschichten, Gedichte und literaturkritische Beiträge und grenzte sich so von den überwiegend politisch orientierten Zeitschriften ab.
Neben Übersetzungen von bis dahin in China kaum zugänglichen ausländischen Texten, etwa von Heinrich Böll und Graham Greene, publizierten in der Zeitschrift einige weitgehend unbekannte chinesische Avantgarde-Literaten, die wenig später zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern des Landes aufstiegen: Der Lyriker Bei Dao etwa, der mehrmals für den Literatur-Nobelpreis genannt wurde, Gu Cheng (顾城) oder die Begründerin der "obskuren Lyrik" (朦胧诗), Shu Ting (舒婷).
Mit der Nummer 9 erschien 1980 die letzte Ausgabe von "Heute", 1989 wurde die Zeitschrift im Exil in Norwegen neu gegründet, nach 2003 führt Bei Dao die Literaturzeitschrift in Hongkong weiter.
Die Zeitschrift "Pekinger Frühling" (Beijing zhi Chun 北京之春)
Die Zeitschrift "Pekinger Frühling" (Beijing zhi Chun 北京之春)
Sie stand mehr als alle anderen den Reformern innerhalb der KP und vor allem des Kommunistischen Jugendverbandes nahe. Führende Mitarbeiter wie Zhou Weimin (周为民) oder der Physikstudent Wang Juntao (王军涛) saßen auch kurzzeitig im Zentralkomitee der Jugendliga. Die Zeitschrift konnte sogar einmal, mit Unterstützung von Funktionären im Hintergrund, eine professionell gedruckte Ausgabe mit einer Auflage von 10.000 Stück herausbringen. Man suchte gezielt Kontakt und die Zusammenarbeit mit Reformern innerhalb der KP Chinas, u.a. im Umkreis des späteren Generalsekretärs Hu Yaobang (胡耀邦). Zu anderen, vor allem den ungestümeren Publikationen, hielt man oft Distanz.
Inhaltlich dominierten politische Themen des KP-Reformflügels, etwa die Rehabilitierung des in der "Kulturrevolution" gestürzten (und zu Tode gekommenen) Staatschefs Liu Shaoqi (刘少奇) oder die Frage, wie sehr man die Lehren Maos immer noch wörtlich nehmen müsste. Daneben gab es auch literarische Beiträge, etwa die von einem bis heute anonymen Autor verfasste Zukunftsfiktion "Eine Tragödie im Jahr 2000" (可能发生在2000年的悲剧), die ein neuerliches Scheitern der Reformen und eine Rückkehr zu den parteiinternen Machtkämpfen an die Wand malt.
Ab 1993 erschien in New York eine Zeitschrift mit dem gleichen chinesischen Namen, aber dem englischen Titel "Beijing Spring". Sie wurde zum zentralen Organ der Demokratiebewegung im Exil, z. T. mit gleichen Autoren wie einst in China. Heute existiert die Zeitschrift noch als Internet-Publikation.
Weitere wichtige Publikationen
Weitere wichtige Publikationen
Gleich zu Beginn der Demokratiebewegung wurde von Ren Wanding (任畹町) die Zeitschrift "Menschenrechte in China" (Zhongguo Renquan 中国人权) gegründet, die unter anderem ein 19 Punkte umfassendes chinesisches Menschenrechts-Manifest publizierte. Die Gruppe aus Guizhou um Huang Xiang publizierte in Peking das Magazin "Aufklärung" (Qimeng 启蒙). Die "Referenz-Nachrichten für das Volk" (Qunzhong Cankao Xiaoxi 群众参考消息) bezogen sich auf ein tägliches offizielles Nachrichtenblatt ("Referenz-Nachrichten"), das ausgewählte Berichte aus aller Welt für Funktionäre und parteinahe Personen brachte, aber vom "normalen Volk" nicht gelesen werden durfte. Eine weitere Zeitschrift, "Fruchtbarer Boden" (Wotu 沃土), war wiederum mehr literarisch und gesellschaftskritisch orientiert. Hier wirkte der Student Hu Ping (胡平), der im November 1980 die Lokalwahlen an der Peking-Universität gewinnen sollte.
Unabhängige Zeitschriften in der Provinz
Unabhängige Zeitschriften in der Provinz
Schon kurz nachdem die ersten Demokratie-Publikationen in Peking erschienen waren, kamen auch in zahlreichen Provinzstädten unabhängige Zeitschriften heraus, oft jedoch in geringer Auflage und – aufgrund der schwierigen Kommunikation – auch gemischter inhaltlicher Qualität. Am lebhaftesten war die regimekritische Szene in Kanton (Guangzhou), wo sich die Mitglieder der früheren Li-Yizhe-Gruppe (allen voran Wang Xizhe 王希哲) nach ihrer Freilassung 1979 auch publizistisch engagierten.
Zu den bekannten Titeln zählen die "Stimme des Volkes" (Renmin zhi Sheng 人民之声) und der "Weg des Volkes" (Renmin zhi Lu 人民之路). Auch in Shanghai erschien ein Magazin mit dem Titel "Stimme des Volkes", in Wuhan "Die Glocke" (Zhongsheng 钟声), in Hangzhou "Frühling in Zhejiang" (Zhejiang zhi Chun 浙江之春), auch in Qingdao ("Gischtblumen" - Hailanghua 海浪花), Taiyuan ("Das Segel" - Fengfan 风帆) und in Tianjin ("Bohai-Gestade" - Bohai zhi Bin 渤海之滨) erschienen Zeitschriften, die eine gewisse überregionale Bedeutung für die Demokratiebewegung erlangten.
Der französische Sinologe und ehemalige Botschaftsmitarbeiter Emmanuel Bellefroid (unter seinem Pseudonym Claude Widor) stellte 1987 eine umfassende Aufstellung aller bekannten Publikationen der Demokratiebewegung in den chinesischen Provinzen zusammen. Er kommt dabei auf mehr als 100 Titel in über 30 Städten. (The Samizdat Press in China's Provinces, 1979–1981: An Annotated Guide. Compiled by Claude Widor. Hoover Press bibliographical series, No. 70. Stanford CA, 1987)