"Die gebildete Jugend geht in die Berge und aufs Land"

"Wir klagen an, wir ziehen vor Gericht" - Kundgebung der Abordnung landverschickter Jugendlicher aus der Provinz Yunnan (Ende Dezember 1978 oder Anfang 1979 auf dem Pekinger Tiananmen-Platz)

"In die Berge und aufs Land" - Landverschickung der Jugendlichen in den 1960er Jahren

Propagandafoto: "Wir akzeptieren die Umerziehung durch die armen und unteren Mittelbauern, und wollen unser ganzes Leben Bauern bleiben"

Begrüßung "gebildeter Jugendlicher" in einem Dorf während der "Kulturrevolution"

Die Politik, jugendliche Schulabgänger aus den Städten zur landwirtschaftlichen Arbeit in arme Agrarregionen und entfernte Grenzgebiete zu schicken, war ein zentrales Element maoistischer Politik. Unter der Parole "Die gebildete Jugend geht in die Berge und aufs Land" (知识青年上山下乡) wurden z.T. schon seit den 1950er-Jahren, aber vor allem zwischen 1962 und 1979, über 17 Millionen Jugendliche in ländliche Regionen verschickt.

Viele gingen mit großem, von der Propaganda befördertem Enthusiasmus, andere eher durch sanften Zwang, sehr oft jedenfalls gegen den Widerstand ihrer Eltern. Die meisten waren 15 bis 18 Jahre alt. Drei Viertel wurden in Regionen nicht allzu weit von ihren Heimatstädten geschickt (z.B. Jugendliche aus Shanghai in Dörfer der benachbarten Provinzen Jiangsu oder Anhui, wo sie auf bäuerliche Produktionsbrigaden verteilt wurden), doch ca. 2,9 Millionen kamen in wenig erschlossene Grenzregionen Xinjiangs, der Inneren Mongolei, Nordostchinas oder in die südöstliche Provinz Yunnan.

Diese Jugendlichen wurden nicht in die bestehenden Dörfer integriert (die oft von ethnischen Minderheiten bewohnt waren), sondern in paramilitärischen Produktions- und Aufbaubrigaden (生产建设兵团) organisiert, die großflächige Staatsfarmen bewirtschafteten (etwa Kautschukplantagen in Yunnan) oder kaum bewohnte Steppen- und Wüstengebiete urbar machten und für die Landwirtschaft erschlossen. Hinter der Ansiedlung in den Grenzgebieten standen auch strategische und sicherheitspolitische Überlegungen, wie die Absicht, in den Minderheitengebieten das (han-)chinesische Element zu stärken und die Grenzsicherung gegenüber den "äußeren Feind" (v.a. der Sowjetunion) verlässlicher zu gestalten.

Viele Jugendliche, die mit positivem Tatendrang aufs Land gegangen waren, mussten jedoch bald feststellen, dass die Lebensbedingungen einiges harscher waren als sie sich vorgestellt hatten, vor allem Wohnverhältnisse, Nahrungsmittelversorgung und medizinische Betreuung erwiesen sich als ziemlich ärmlich. Und die Bauern in den Dörfern hießen die "gebildeten Jugendlichen", die ihnen modernere Techniken beibringen und sie auch im Sinne Maos politisch beeinflussen sollten, selten willkommen. Sie sahen in ihnen oft nur zusätzliche Esser, die außerdem mit der harten Landarbeit nicht zurande kamen.

Wachsende Unzufriedenheit

Dieses Foto wurde angeblich bei einer öffentlichen Hinrichtung von acht landverschickten Jugendlichen aus Peking in der Region Ningxia gemacht (1968).

Proteste in Xishuangbanna (Yunnan), Dezember 1978

Wandzeitungen der Jugendlichen in Xishuangbanna (Januar 1979), u.a. mit dem Offenen Brief an Deng Xiaoping. Auf der Zeichnung steht: "Eine mächtige Hand holt die Kraft des Himmels zurück, vertreibt Nebel und Geister, kommt zurück, Kinder! Wir wollen unsere Jugend der großen Sache widmen" (= den "Vier Modernisierungen").

In den Produktions- und Aufbaubrigaden, die unter militärischer Leitung standen, litten viele Jugendliche unter der strengen Disziplin und der verbreiteten Korruption der Offiziere, die sich die wenigen Privilegien (z.B. auch Studien- und Arbeitsplätze in den Städten) gerne unter sich aufteilten. Zudem waren harte körperliche Strafen (Prügel, Folter), sexueller Missbrauch der jungen Mädchen und strenge Urteile durch Militärgerichte (Lagerhaft, bis hin zu Exekutionen) an der Tagesordnung.

All dies staute sich zu vielfältigem Unmut unter den Jugendlichen auf. Als zwei Jahre nach Maos Tod im ganzen Land eine Umbruchs- und Reformstimmung losbrach, löste das - etwa ab Oktober 1978 - auch unter der "gebildeten Jugend" in den Dörfern Proteste und Forderungen nach einer Heimkehr aus, einen veritablen "Wind der Rückkehr in die Städte" (返城风), wie man damals sagte.

Besonders in den Grenzregionen Xinjiang und Yunnan entstanden organisierte Proteste, die Jugendlichen wählten unabhängige Vertreter, schickten Delegationen nach Peking und in andere Städte, es kam zu Streiks und Angriffen auf Regierungsbüros. In Peking und Shanghai fanden Straßenkundgebungen statt, an den Wandzeitungsmauern wurden Protestresolutionen veröffentlicht. Diese Heimkehrbewegung befeuerte auch die gerade erst aufkeimende Demokratiebewegung, die Formen der Proteste und der Selbstorganisation inspirierten den "Pekinger Frühling".

Die Zentralregierung und die Führungen der Provinzen gaben schließlich den Forderungen weitgehend nach. Auch Deng Xiaoping soll sich dafür eingesetzt und vor einer Unterdrückung der Protestbewegung gewarnt haben. Im Laufe des Jahres 1979 konnten - über ganz China gerechnet - schon drei Viertel der Jugendlichen in ihre Heimatstädte zurückkehren, nur in Xinjiang, wo der Konflikt an vielen Orten erst Ende 1979 bzw. 1980 ausbrach, wurde die Heimkehrbewegung zunächst gewaltsam unterdrückt.

Das Schicksal der landverschickten "gebildeten Jugend" hat die chinesische Gesellschaft noch viele Jahre beschäftigt, in den 80er und 90er Jahren widmeten sich zahlreiche Dokumentationen, TV-Serien, literarische Aufsätze und Romane dem Thema, auch im chinesischen Internet findet man inzwischen viele persönliche Erinnerungen, samt Fotos und politische Analysen.

Die Heimkehrbewegung der Jugendlichen in Yunnan

Flugblatt mit dem Offenen Brief an Deng Xiaoping (14. Oktober 1978, initiiert vom Anführer der Jugendlichen, Ding Huimin)

 

Ding Huimin (li.) mit einem Kollegen vor einem typischen Bambushaus in Xishuangbanna

Straßenproteste in Jinghong, Xishuangbanna, am 9. Dezember 1978, auf den Transparenten werden Treffen mit Parteichef Hua Guofeng und dem Vizevorsitzenden Deng Xiaoping gefordert

"Wir wollen in unsere Heimat zurück" (Jinghong, 9. Dezember 1978)

In Yunnan waren am Höhepunkt der Landverschickung ungefähr 100.000 Jugendliche aus anderen Provinzen angesiedelt, eine im gesamtchinesischen Vergleich kleine Zahl. Doch in dieser Provinz entfalteten sich Ende 1978 und Anfang 1979 die schärfsten Proteste, von hier nahm die landesweite Rückkehrbewegung ihren Ausgang, hier kam es zu einem offenen Konflikt zwischen den Jugendlichen und den Behörden.

Die Details dieser politischen Auseinandersetzung sind inzwischen in- und außerhalb Chinas recht gut dokumentiert (siehe u.a. Bin Yang: "We want to go home!" The Great Petition of the Zhiqing, Xishuangbanna, Yunnan, 1978-1979, in: China Quarterly Nr. 198, Cambridge University Press, Juni 2009, S. 401-421, mit weiteren Literaturverweisen).

Zum ersten Mal berichteten offizielle chinesische Medien im Juli 1973 über Vorwürfe gegen die Verantwortlichen der Landverschickung, nachdem Ministerpräsident Zhou Enlai auf zahlreiche Beschwerden reagiert und von "faschistischen Aktivitäten" gesprochen hatte. Eine schleichende Rückkehrbewegung setzt schon Mitte der 1970er-Jahre ein, im Herbst 1978 formieren sich die Proteste erneut. Ein gewisser Ding Huimin (丁惠民) aus Shanghai wird in Yunnans Autonomen Bezirk Xishuangbanna (西双版纳自治州) zum Anführer der Bewegung. Unablässig schreibt er Klagebriefe an die Politiker in Kunming und Peking, u.a. im Oktober 1978 einen offenen Brief an Deng Xiaoping sowie ein Manifest mit dem Titel "Die Stimme unseres Herzens", in dem er zu einem Dialog mit der Pekinger Führung, aber auch zu Aktionen aufruft.

Am 23. November greift die "Chinesische Jugendzeitung" (中国青年报) das Thema auf und verlangt "Lösungen" für die Anliegen der landverschickten Jugendlichen. In der allgemeinen Atmosphäre des Umbruchs und der Richtungskämpfe in der KP werden die Unzufriedenen mutiger. Ende November nehmen in Yunnan über 50.000 Jugendliche an nicht autorisierten Versammlungen teil, sie wählen eigene Anführer und Delegierte und verfassen Resolutionen. Die Funktionäre merken zwar, was vor sich geht, halten aber aus Unsicherheit still, in der Hoffnung, dass die Zentralregierung rasch Entscheidungen fällt.

Am 8. Dezember treffen sich in Jinghong (景洪, Regierungssitz von Xishuangbanna) 129 gewählte Delegierte der Jugendlichen, um neue Resolutionen zu verfassen und eine Abordnung für Petitionen und Verhandlungen zusammenzustellen. Am Tag darauf kommt es auch zu Straßenprotesten in Jinghong und einem Streikaufruf. Mehrere Gruppen sollen nach Shanghai, Peking und Chongqing reisen, um dort mit politischen Verantwortlichen zu sprechen und Stimmung für eine Rückkehr in die Heimatorte zu machen. Von "Verbesserung der Lage" ist nun kaum mehr die Rede, Heimkehr ist faktisch zur einzigen Forderung geworden.

Eine Abordnung der Jugendlichen in Peking

Gleisblockade auf dem Bahnhof von Kunming (Szene aus einem chinesischen Fernsehspiel, 2000er-Jahre)

Kundgebung der von Ding Huimin geführten "Petitionsabordnung" auf dem Tiananmen-Platz in Peking (Ende Dezember 1978)

Besuch einer Fact-Finding-Mission der Zentralregierung in Jinghong (Xishuangbanna), Januar 1979

Hunderte Jugendliche knien vor den Funktionären aus Peking nieder, um ihren Klagen und Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Zhao Fan vom "Zentralen Amt für Landerschließung", der schließlich die Erlaubnis zur allgemeinen Rückkehr in die Heimatorte verkündet

Gespräche mit einer nach Jinghong entsandten "Arbeitsgruppe" der Provinz verlaufen ergebnislos, den Jugendlichen wird sogar angedroht, dass sie faktisch ihr Leben lang in den Staatsfarmen bleiben müssten. Die Petitionsabordnungen brechen in Folge in die Städte auf, stoßen aber auf Widerstand seitens der Behörden, die erst nach neuen Streikdrohungen oder auch - am Bahnhof von Kunming - mehrtägigen Gleisblockaden abgewendet werden.

Die Gruppe, die von Ding Huimin geführt wird, kommt am 27. Dezember in Peking an, wo sie mit ihren Transparenten (auf denen Treffen mit den Parteiführern Hua Guofeng und Deng Xiaoping verlangt werden) durch die Stadt zieht und unverzüglich auf dem Tiananmen-Platz eine kurze Kundgebung abhält und Flugblätter verteilt.

Zu Deng und Hua werden die Jugendlichen aus Yunnan nicht vorgelassen, aber immerhin zum Vizepremier und Politbüromitglied Wang Zhen (王震), der schließlich verspricht, die Forderungen auch an die oberste Führung weiterzuleiten. Das Zentrale Amt für Landerschließung (农垦总局) entsendet schließlich eine hochrangige Kommission unter den Direktoren Zhao Fan (赵凡) und Liu Jimin (刘济民) nach Xishuangbanna, mit dem Auftrag, die Frage der aufs Land verschickten Jugendlichen einer Lösung zuzuführen. Auch Ding Huimin und die anderen fahren nach Yunnan zurück.

Die Abordnung der Zentralregierung stößt in Xishuangbanna nicht nur auf einen Streik von über 30.000 Jugendlichen, sie registriert auch die schweren Missstände, die den herrschenden Zorn ausgelöst haben. Bei einer Veranstaltung der Regierungsvertreter in Jinghong knien sich, wie im alten kaiserlichen Ritual, hunderte Jugendliche vor den Pekinger Funktionären nieder, um ihren Bitten und Petitionen Nachdruck zu verleihen.

Im Laufe des Monats Januar fällt die Entscheidung, faktisch allen über einen gewissen Zeitraum die Heimkehr in zu erlauben, die neuen Wohnsitz-Genehmigungen für die Städte (hukou) werden am Fließband ausgestellt. Wegen des überbordenden Andrangs hängt man sogar an Türen und Zäunen vor den zuständigen Ämtern offizielle Stempel aus, an denen sich jeder bedienen kann, um die vorbereiteten Genehmigungen zu bestätigen. Es kommt aber im Zuge der allgemeinen Heimkehr-Obsession auch zu familiären Tragödien: Manche Ehen mit lokalen Bewohnern, die in Erwartung geschlossen wurden, nie wieder in die Stadt zurück zu können, werden nun im Blitztempo geschieden, auch Kinder zurückgelassen. Ende 1979 sind 94 Prozent der Jugendlichen in Yunnan in ihre Heimatstädte zurückgekehrt.

Der Konflikt in Xinjiang

Auch in anderen Provinzen fühlen sich die jungen Leute ermutigt, für ihre Heimkehr zu kämpfen. Der Reihe nach kommt es in Heilongjiang, Jilin, in der Inneren Mongolei, in Shaanxi, Anhui oder Guizhou zu ähnlichen Bewegungen, die Beendigung der Politik der Landverschickung ist mittlerweile von der Zentralregierung anerkannt. Nur in der überwiegend von Moslem bewohnten zentralasiatischen Region Xinjiang gibt es weiter Probleme. Hier sind die Behörden offenbar nicht bereit, Arbeitskräfte der zahlreichen Staatsfarmen heimzuschicken. Der eigentliche Konflikt beginnt hier später, Ende 1979 bzw. im Laufe des Jahres 1980, zu einem Zeitpunkt, als unorganisierte Proteste überall in China schon mit Polizeigewalt unterdrückt werden.

1980 besetzen 4000 Jugendliche Regierungsgebäude in den Städten Aksu, Kashgar und Korla, es kommt zu zahlreichen Verhaftungen. Erst im November 1980 erlauben auch hier die Behörden die generelle Heimkehr der unter Mao in die Region verschickten Jugendlichen.

Viele Jugendliche in Xinjiang stammten ursprünglich aus Shanghai, einige Gruppen waren Anfang 1979 ohne Erlaubnis in die Stadt zurückgekehrt, sie brachten an der lokalen Demokratiemauer Protest-Wandzeitungen an und unterstützten die Bürgerbewegungen. Einige erstürmten auch Regierungsgebäude und blockierten den Bahnverkehr der Millionenstadt, was auch in Shanghai zu Verhaftungen und Polizeirepression führte.