Gerechtigkeit für Opfer und Verfolgte
Schon Ende 1978, als klar war, dass die Exzesse der "Kulturrevolution" endgültig vorbei sein sollten, schöpften viele der unter Mao politisch Verfolgten Hoffnung auf Rehabilitierung.
Die Art, wie und unter welchen Umständen Bürger in Mitleidenschaft gezogen waren, erschienen recht unterschiedlich: Die Kampagnen von Anfang der 1950er-Jahre zielten auf "Kapitalisten", "Großgrundbesitzer" oder "Kuomintang-Spione" (die "schwarzen Kategorien"), in den 60er Jahren waren es "Rechtsabweichler" und Kritiker aus den Reihen der Parteifunktionäre (einschließlich hoher Politiker), und zuletzt die ungezählten Opfer der "Kulturrevolution", neuerlich die "schwarzen Kategorien", aber auch Intellektuelle, Lehrer oder Kulturschaffende, die oft pauschal einer revolutionsfeindlichen Einstellung verdächtigt wurden, oft auch einfach Menschen, die von Nachbarn und Arbeitskollegen denunziert worden waren.
Wer nicht gleich in den Exzessen der ersten Monate erschlagen oder in Schauprozessen zum Tod verurteilt und exekutiert worden war, landete meist in Straflagern oder Gefängnissen (wenn es einen formellen Prozess gegeben hat).
Funktionäre und Kulturschaffende wurden auch unter vielerlei Begründungen zur "körperlichen Arbeit" und "Umerziehung" in ländliche Gebiete verbannt, manchmal mit ihren Familien, nicht wenige verloren das Wohnrecht in den Städten. Andere wiederum wurden von ihrer Betriebseinheit oder Roten Garden, die die örtliche Macht an sich gerissen hatten, unter Hausarrest ("unter Aufsicht der Volksmassen") gestellt, mit vielerlei Auflagen und Schikanen.
Politisch Verfolgte und Unzufriedene
Als Millionen Opfer Ende der 1970er-Jahre Rehabilitierung und Wiedergutmachung einforderten, geschah das auf vielfältige Weise: Sie schrieben Briefe und Eingaben an die Behörden, aber nicht wenige machten ihre Fälle auch öffentlich, indem sie zum Beispiel auf "Wandzeitungen" ihre Fälle schilderten. Zehntausende reisten nach Peking oder in die Provinzhauptstädte, um persönlich bei den Behörden vorzusprechen, in Peking kampierten viele unter freiem Himmel vor den Büros der Sicherheitsbehörden in der Südostecke des Tiananmen-Platzes.
Die Regierung und auch viele Lokalbehörden und Institutionen richteten eigene Ämter und Kommissionen ein, die sich mit den Rehabilitierungsgesuchen befassten. Es ging dabei um die Aufhebung von Gerichtsurteilen, von politischen Einstufungen (als "konterrevolutionär", "Klassenfeind", etc.), die immer noch in Personalakten aufschienen, um die Rückkehr an bestimmte Arbeitsplätze oder um das Wohnrecht in den Städten. Andere forderten verlorenen Wohnraum oder Eigentum zurück. Es sind nicht nur "politisch" Verfolgte, die sich in dieser Situation öffentlich zu Wort melden, auch viele, die sich einfach in ihrem persönlichen Umfeld oder am Arbeitsplatz schikaniert oder diskriminiert fühlen, machen nun ihrem Ärger über echte oder vermeintliche Benachteiligungen Luft. In dem rigiden und hierarchischen Herrschaftssystem hatten sie oft lange keine Ansprechpartner finden können. Auch solche persönlichen Animositäten finden Niederschlag in den zahlreichen Wandzeitungen.
Die erste spontane Demonstration
Am 25. November diskutieren hunderte Demokratieaktivisten und Beschwerdeführer vor der gerade erst ein paar Tage alten "Mauer der Demokratie": In den Reden werden die steigenden Preise genauso kritisiert wird die Mao-Hymne "Der Osten ist rot", in dem ein "Erlöser" versprochen wird. Ein Redner verlangt politische Gewaltenteilung zwischen Regierung, Gesetzgebung und Judikatur, ein anderer attackiert die "Kulturrevolution".
Das Unglaubliche passiert dann am 27. November 1978, es ist wahrscheinlich die erste spontane Straßendemonstration gegen die Regierung und die Politik der KP seit 1949. An die zehntausend Menschen ziehen in der Kälte zum Tiananmen-Platz, vorbei am "Xinhua Men" (新华门), dem "Tor des neuen China", dem Eingang zum Sitz der Regierung des Zentralkomitees der KP. "Nieder mit dem Hunger", "Nieder mit der Unterdrückung" und "Wir verlangen Menschenrechte und Demokratie" steht auf den eilig produzierten Transparenten. Allein die Begriffe "Menschenrechte" und "Demokratie" sind eine Provokation. (In einem Bericht der US-Fernsehstation ABC von Jim Laurie sind bei ca. 2'20 Min. kurze Szenen von dieser Kundgebung zu sehen.)
Fu Yuehua (傅月华)
Fu Yuehua (傅月华)
Die zentrale Person, die sich in Peking für die "Beschwerdeführer" (chin. 上访者) einsetzt und die versucht gemeinsames Handeln zu organisieren, ist eine damals 31-jährige Frau namens Fu Yuehua. Sie sieht sich selbst als Opfer jahrelanger Behördenwillkür. Ein vorgesetzter Parteifunktionär soll sie Mitte der 70er Jahre, das Abhängigkeitsverhältnis ausnutzend, mehrfach vergewaltigt haben.
Ihre zahllosen Beschwerden an höherer Stelle führen nur dazu, dass sie ihre Arbeit verliert und bedroht und verleumdet wird. Nach der ersten Kundgebung Ende 1978 gesellt sie sich zu den zahlreichen Beschwerdeführern, die im Zentrum Pekings kampieren, schreibt selbst einige Wandzeitungen. Anfang Januar gründet sie eine "Vereinigung beschwerdeführender Bürger". Für den 8. Januar, dem Todestag Zhou Enlais, organisiert sie wieder eine Straßenkundgebung, bei der Regierung und KP neuerlich kritisiert werden.
Zehn Tage brauchen die zunächst offenbar ratlosen Behörden, um auf diese Herausforderung zu reagieren. Am 18. Januar wird Fu festgenommen, fast ein Jahr später wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" und "Verleumdung" (des vorgesetzten Parteifunktionärs, den sie der Vergewaltigung beschuldigt) zu zwei Jahren Haft verurteilt.
Schon kurz nach ihrer Festnahme setzen sich Vertreter der Demokratiebewegung für Fu Yuehua ein. Sie schicken Delegationen zum Gefängnis und zu den Polizeibehörden, ihr Fall wird auch ein zentrales Thema für die neuen unabhängigen Zeitschriften: "Erkundungen", das "Forum 5. April" und das Magazin "Menschenrechte in China" stellen sich auf ihre Seite, fordern Aufklärung und Freilassung, bezeichnen ihr Schicksal als Prüfstein für die auch in der Verfassung zugesagten Rechte der Meinungsäußerung und Kundgebung.
Die Aufarbeitung vieler Ungerechtigkeiten der Vergangenheit geht trotzdem weiter. Über drei Millionen Opfer der "Kulturrevolution" und nochmals eine halbe Million Verfolgte durch die politischen Kampagnen der 50er und 60er Jahre wurden – nach offiziellen Angaben – in den Jahren nach Maos Tod rehabilitiert. Wahrscheinlich waren es auf lokaler Ebene noch viele mehr, die nicht unbedingt ein formelles Verfahren durchlaufen haben, sondern von kollektiven Entscheidungen und Maßnahmen zur Wiedergutmachung profitierten. Während hochrangige Funktionäre oft aufgrund politische Entscheidungen in den Parteigremien rasch rehabilitiert wurden, mussten sich einfache Bürger selbst darum kümmern, die Verfahren dauerten oft lange, und vielen ging das nach Jahren der Verbannung und Unterdrückung viel zu langsam.
Wandzeitung eines Beschwerdeführers an der Pekinger "Mauer der Demokratie"
Wandzeitung eines Beschwerdeführers an der Pekinger "Mauer der Demokratie"
"Brief an das gesamte chinesische Volk.
Verehrte Zentrale Militärkommission: Es geht um einen ausgemusterten Soldaten, der zu einem 'schwarzen Element' gemacht wurde. Er heißt Tao Xinyang, stammt aus dem Kreis Puding in der Provinz Guizhou. Im Sommer 1976, als unser Großer Führer, der Vorsitzende Mao, noch am Leben war, wurde ich zum Eintritt in die Volksbefreiungsarmee empfohlen, kam zur 50. motorisierten Kompagnie im Militärbezirk Kunming, Provinz Yunnan, um 1978 nach meiner Demobilisierung zurückzukehren, um an der sozialistischen Revolution und am Aufbau teilzunehmen.
Doch gehöre ich nach meiner Heimkehr weder zur Landwirtschaft noch zu den Stadtbewohnern, ich wurde ein sogenanntes 'schwarzes Element', wie es in unserer sozialistischen Gesellschaft gar nicht existieren dürfte, und wie es sie auch selten gibt. Ein demobilisierter Soldat und 'schwarzes Element'. Tao Xinyang. 22. 6. 79" (Dazu geklebt sind mehrere Fotos des Schriftverkehrs.)